Wir Brauchen Eine Revolution

„Die Wellen globaler Aufstände werden jedes Mal umfassender“

Gespräch und Übersetzung aus dem Englischen: Leo Kühberger

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Seit Beginn der Krise haben wir weltweit eine beeindruckende Welle an Protesten und Aufständen erlebt, die in den letzten Jahren jedoch an vielen Orten wieder verebbt ist. George Katsiaficas hält dem entgegen, dass die Welle von 2011 das Klassenbewusstsein gestärkt hat und die Bewegungen der Zukunft den globalen Kapitalismus noch direkter und unmittelbarer angreifen werden.

Du beschäftigst dich seit vielen Jahren mit Sozialen Bewegungen, hast über die globale Bedeutung des Jahres 1968, die Autonomen und zuletzt über die wenig bekannte Geschichte der Bewegungen und Aufstände in Asien geschrieben. In diesen Büchern hast du das Konzept vom Eros-Effekt entwickelt. Wir wollen heute über die Globalen Sozialen Bewegungen sprechen, aber könntest du zu Beginn mal dieses Konzept erläutern? Was verstehst du darunter? Warum ist das für die Beschäftigung mit diesem Thema wichtig?

George Katsiaficas: Genaugenommen bin ich noch immer dabei dieses Konzept zu entwickeln und jüngere WissenschafterInnen arbeiten daran es zu erweitern. Ich bin damals nach Berlin gegangen um über 1968 zu forschen und durch diesen Aufenthalt in Europa und durch die deutsche Sprache war es mir möglich Zugang zu vielen anderen Ländern zu bekommen, die mir bis dahin verschlossen waren. Ich habe damals viele Reisen unternommen, in den Mittleren Osten oder nach Osteuropa. Als ich dann wieder in Kalifornien war, an meinem Tisch gesessen bin und mit Blick auf den Ozean meine Notizen durchgegangen bin, habe ich eine Sache realisiert: Die Höhepunkte dieser Proteste haben zeitgleich stattgefunden, sie waren irgendwie synchronisiert worden, aber ohne, dass es da eine zentrale Organisation gegeben hätte. Es gab keine Organisation, die beispielsweise zwischen Frankreich, Ghana, Mexiko und Kolumbien Beziehungen hergestellt hätte. Die Theorien über Soziale Bewegungen, die ich damals studiert hatte, erklären deren Entstehung durch eine Reihe von verschiedenen Variablen, sie behandeln die ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen in einem bestimmten Kontext und in einem bestimmten Land.

Mir wurde aber klar, dass die zentrale und wichtigste Variable in der Entstehung dieser Bewegungen und Aufstände die Beziehungen zueinander gewesen sind! Der Kampf in Vietnam hat da natürlich eine Rolle gespielt, aber entscheidend war die Existenz einer internationalen Bewegung mit der sich die Menschen identifiziert haben, sie haben sich auf eine vielleicht intuitive Art und Weise aufeinander bezogen, aber eben nicht als Teil einer einzelnen Organisation. Daher habe ich mir diese Frage gestellt: Was ist das? Wie können wir das verstehen? Ich bin ja selbst ein Produkt der sechziger Jahre, ich war in Woodstock, habe Beatles, Stones und Hendrix gehört. Ich habe das alles auf einmal in mich aufgesogen. Das war für mich wirklich ein Heureka-Moment, als mir klar geworden ist und mit ist das damals wie eine mächtige, instinktive Kraft erschienen, dass sich Menschen auf einem bedeutenden erotischen Niveau miteinander vereinen. Als Student von Herbert Marcuse reduziere ich Eros natürlich nicht auf Sex, sondern begreife Eros in einem sehr weiten Sinne als die Triebe an sich. Marcuse war übrigens ein wichtiger Begleiter. Er hat damals in San Diego an der Uni gearbeitet und bei einigen unserer in Oceanbeach mitgemacht. In einem Gespräch mit einem Freund bin ich dann auf den eigentlichen Begriff gekommen, den Eros-Effekt, wie ich ihn dann verwende und dieser Begriff und das Buch haben für viele das Verständnis von 1968 als globaler Bewegung befördert.

Zuletzt hast du zwei Bände über die Geschichte der Bewegungen und Aufstände in Asien veröffentlicht. Wie ist es dazu gekommen und hast du den Eros-Effekt in diesen Bewegungen wieder gefunden?

George Katsiaficas: Im Jahr 2000 war ich zum zweiten Mal in Korea, weil zwei meiner Bücher ins Koreanische übersetzt wurden und dort breit rezipiert worden sind. Kim Dae-jung, der damals Präsident war und als Vertreter der „Sonnenscheinpolitik“ bekannt wurde, weil er sich um eine Annäherung an Nordkorea bemüht hat, hat einige Leute zum Abendessen eingeladen und danach war es Bischof Bello aus Osttimor, der gemeint hat, warum ich, nachdem ich über die USA und Europa geschrieben habe, nicht ein Buch über die Bewegungen in Asien schreiben würde. Ich habe ihn gefragt, an welche Bewegungen er da denkt, und er hat gemeint, das würde ich dann schon sehen. Dieses Zusammentreffen fand anlässlich des zwanzigsten Jahrestags des Gwangju-Aufstands statt und natürlich steht dieser im Mittelpunkt meiner Arbeit, weil er für die Bewegungen in Asien in den achtziger Jahren zentral ist. Erst dann ist mir so richtig bewusst geworden, dass zwischen 1986 und 1992, also in nur sechs Jahren, in Asien insgesamt acht Diktaturen gestürzt wurden, und ich habe mich wieder gefragt, wie das in so einer kurzen Zeit möglich war.

Vor allem auch, weil man gerne gesagt hat, dass Asien so stabil ist und die Menschen gar keine Demokratie wolle. Da schwingt ein wenig das mit, was Marx als asiatischen Despotismus bezeichnet hat. Ich habe dann eine Zeit lang in Gwangju gelebt und mit der Stiftung gearbeitet, die von den Familien der Opfer gegründet wurde und die Aktivist*innen aus ganz Asien nach Gwangju einlädt. Bei Vorträgen für diese Aktivist*innen habe ich am Ende immer über den Vergleich zwischen der Pariser Kommune und dem Gwangju-Aufstand gesprochen, um den Menschen ein Verständnis davon zu geben, wie sich Geschichte vom 19. zum 20. Jahrhundert verändert, sich Asien in das Zentrum des Weltgeschehens bewegt und die Bereitschaft der Menschen für direkte Demokratie ein viel höheres Niveau erreicht als im 19. Jahrhundert. Dadurch bin ich mit vielen wichtigen Aktivist*innen in Kontakt gekommen, habe sie besucht und konnte durch Interviews vor Ort besser verstehen, dass der Hauptgrund, warum diese Welle an Aufständen passiert ist, wieder die Bewegungen waren. Im Zweiten Band spreche ich zwar schon über die ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen, aber die einzige wirkliche Erklärung ist der Eros-Effekt. Marcuse hat mal gesagt, dass die Freiheit ein biologisches Bedürfnis ist, und wenn sich Menschen für die Freiheit erheben, dann wird dieses Bedürfnis aktiviert und es scheint, dass Menschen dann geradezu gezwungen sind zu handeln.

Aber würdest du dann sagen, dass es sich dabei um so etwas wie eine grundlegende menschliche Bedingung handelt, die sich in der ganzen Geschichte findet? Du hast ja gemeint, dass du den Eros-Effekt in deiner Beschäftigung mit 1968 entwickelt hast, daher stellt sich die Frage, ob das damals irgendwie neu oder irgendwie anders war, wenn man das jetzt mal mit anderen welthistorischen Momenten vergleicht, mit 1917 oder 1848?

George Katsiaficas: In meinem Buch über 1968 komme ich auf 1917 zu sprechen, aber ebenso auf zwei vermeintlich gescheiterte Perioden, denn 1968 wird in der Regel auch als gescheitert betrachtet, daher behandle ich 1848 und 1905, und ich behaupte, dass das ebenso Momente welthistorischer Bewegungen gewesen sind. Aber ich würde deine Frage mit Ja beantworten. Dieses Phänomen gibt es seit es Menschen gibt und sie durch den Aufstieg von Staaten und die Entstehung von Autoritäten ihre ursprüngliche Freiheit verloren haben. Ich denke, dass Revolten und Aufstände sehr ausgeprägte und wichtige Beziehungen zueinander haben und es eine Bedingung des Menschen ist. Wenn wir in einer Menge sind, die sich Autoritäten unterwirft, dann ist es sehr schwer das nicht zu tun, aber wenn wir in einer Menge sind oder sich sehr viele Menschen gegen Autoritäten auflehnen, dann passiert etwas! Jason del Gandio meint, dass da sogar etwas physiologisches passiert, es ist ein Vibe, etwas auf der Haut, Menschen bekommen Gänsehaut, es ist also nicht nur psychologisch. Freiheit aktiviert den Körper auf eine Art und Weise, die wir nicht nur psychologisch verstehen können. Ich habe versucht den Eros-Effekt in Begriffen des kollektiven Unbewussten mit C.G. Jung zu entwickeln, aber del Gandio meint, dass es auch physiologisch ist und wir das so denken sollten. Das ist ein interessanter Punkt. Ich will es nicht mit einem natürlichen Phänomen vergleichen, aber am Ende sind wir ja doch natürliche Wesen. Wir entwickeln unsere Instinkte und verändern sie bewusst. Marcuse hat von der Notwendigkeit gesprochen die Instinkte durch das Bewusstsein zu ändern. Ich glaube, dass es da den Instinkt, die Gene oder die DNA für Rebellion gibt, und das wird in der gegenwärtigen Phase stärker. Es sind in der Folge vor allem die Beziehungen von Freiheitsbewegungen untereinander, die wieder andere Freiheitsbewegungen auslösen können. Wir können uns da auch die Antiglobalisierungsbewegung Ende der neunziger Jahre ansehen. Alle reden da von Seattle, aber das war viel mehr als Seattle. Es gab Proteste in hunderten Städten rund um die Welt. Die Zapatistas haben da eine wichtige Rolle gespielt, „Reclaim The Streets“ war von ihnen inspiriert, und wieder sehen wir, dass diese Welle nicht von nationalen ökonomischen, sozialen oder politischen Faktoren ausgelöst wurde, sondern von anderen Freiheitsbewegungen.

Man könnte an dieser Stelle viele Beispiele anführen, wo das genau nicht passiert. Proteste, Bewegungen und Aufstände verbleiben sehr oft in einem nationalen Rahmen verhaftet. Warum ist das so und wie weit können wir darauf Einfluss nehmen, dass es nicht so ist? Ich denke beispielsweise an die massive Welle von Protesten in Griechenland. Viele haben gehofft, dass der Funke in andere Länder überspringt. Das ist aber nicht passiert und die Bewegungen in Griechenland sind weitgehend alleine geblieben.

George Katsiaficas: Für mich ist es offensichtlich, dass sich die Proteste immer stärker internationalisieren und die Menschen auf der Straße intuitiv verstehen, dass unsere Probleme heute international sind, im besonderen wenn es um den globalen Kapitalismus geht. Die Propagandamaschinerie der Massenmedien anerzieht uns aber nach wie vor ein nationalistisches und lokalistisches Bewusstsein. Das beginnt bei so Dingen, wie der Sportberichterstattung. Durch die dauernde Berichterstattung über die „Heim“-Mannschaft, Interviews mit den Spielern, Berichten über Transfers und Verletzungen, werden wir ohne uns groß anzustrengen mit „unserem“ Team vertraut gemacht. Das geht dann weiter. Nationale Identität wird nicht nur im Sport bei den Olympischen Spielen oder der Fußball-WM hergestellt, sondern durch langjährige „Erziehung“, die uns nationale Geschichte beibringt. Oder wenn wir reisen brauchen wir einen Reisepass und der schreibt dem Individuum eine nationale Identität zu. Militärische Fragen, Bildungspolitik und Arbeitsgesetze sind meist national ausgerichtet, und daher bewegen sich die Lösungen von Protestierenden oft innerhalb nationaler Grenzen. Aus all diesen Gründen und noch vielen anderen haben nationale Zuschreibungen noch immer eine Zugkraft, die auch kontinuierlich verstärkt wird.

In den letzten Jahren haben wir eine ungeheure Welle an Protesten und Bewegungen erlebt. Ich möchte an dieser Stelle nur einige wenige nennen. Der Arabische Frühling, Occupy Wall Street, die Indignados in Spanien, in vielen Ländern gab es massive Proteste gegen die Austerität, bis hin zu mehreren Generalstreiks in Südeuropa, Studierende waren zu Tausenden auf der Straße, Menschen setzen sich gegen staatlichen Rassismus und Polizeibrutalität zur Wehr, die Gezi- Park Proteste in der Türkei, Proteste in Brasilien, eine Welle an militanten Streiks,... Ich könnte diese Liste jetzt noch um einiges fortsetzen. Man gewinnt den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, die mehr und größere Bewegungen erlebt als jemals zuvor.

George Katsiaficas: Du könntest beispielsweise noch Hongkong hinzufügen, als eine sehr massive, populäre Bewegung und ich denke in vielen anderen asiatischen Ländern gibt es kleinere Bewegungen, die damit nicht verbunden sind. Die Synchronizität der globalen Bewegungen ist noch nicht so ausgeprägt, dass die asiatischen und afrikanischen Bewegungen oder auch die lateinamerikanischen tatsächlich ein Teil davon wären. Aber es bleibt etwas von diesen

Kämpfen, denn nichtsdestotrotz denke ich, dass sich Millionen Menschen auf der ganzen Welt verändert haben und heute ein anderes Bewusstsein haben. Zu aller erst ist da mal die Idee von dem einen Prozent. Das ist wirklich wichtig, weil es sich um wirkliches Klassenbewusstsein handelt. Auch wenn es falsch ist, weil es 0,1 oder 0,01 Prozent sein sollten, aber das Konzept, die Intuition, dass die Superreichen uns zwingen für weniger Geld länger und härter zu arbeiten, ist mal da. Das verstehen heute hunderte Millionen Menschen. Das ist ein enormer Schritt vorwärts für die Kämpfe der Zukunft und eine Basis von der aus man agieren kann. Wenn wir sagen, dass es vor der Welle von 2011 nur wenig Klassenbewusstsein gegeben hat, dann ist das schon eine enorme Leistung. Natürlich haben wir den Kapitalismus nicht beendet, wir haben die Wall Street nicht zerstört oder niedergebrannt, wie es eigentlich der Fall sein sollte, denn man sollte die Wall Street bis auf die Grundfesten zerstören und dort einen Park errichten, aber das haben wir nicht gemacht. Noch nicht! Das selbe trifft auf die Arabische Welt zu, wo die aufständischen Bewegungen zwar durch neue Diktaturen und Kriege ersetzt wurden, aber auch in dieser Region ist dieses Verständnis gewachsen. Das ist natürlich viel komplizierter, aber mir ist es wichtig festzuhalten, dass die Wellen an Globalen Bewegungen in ihrer Intensität zunehmen und die Welle von 2011 hat sich global weiter verbreitert. Tatsächlich waren ja viele der Zelte auf den Occupy-Plätze leer, weil die Menschen in der Nacht nach Hause gegangen sind oder manche haben ihr Zelt einfach auch als Akt der Solidarität dort aufgestellt.

Trotzdem waren die zentralen Punkte, wie der Zucchotti Park, extrem wichtig dieses Bewusstsein vom 1% zu stärken. Wenn wir eine Untersuchung machen würden über all diese Protestwellen, beginnend 1968, dann die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre, zur Welle in Asien, die wiederum Osteuropa 1989 beeinflusst hat, über die Antiglobalisierungsbewegung um 1999, die wieder Einfluss auf die Welle 2011 hatte, ich denke wir finden da ein zunehmendes Tempo in der Bewegung. Die Welle von 2011 war in ihrem Ausmaß sehr beeindruckend, und im regionalen Kontext werden langsam Organisationen aufgebaut, wie beispielsweise die Caracoles der Zapatistas. Die kämpferischen Bewegungen in Griechenland sind durch eine politische Partei, Syriza, sozusagen zersetzt worden. Auch der spanische Impetus ist durch elektorale Prozesse unterminiert worden, die Arbeiter*innenbewegung in Wisconsin ist leider im Zuge des Referendums über die Abwahl des Gouverneurs in Wahlprozesse integriert worden und daran gescheitert ihn zum Rücktritt zu zwingen und damit verschwunden. Ich weiß auch nicht, wie viel da in der Arbeiter*innenklasse geblieben ist. Ich war dreißig Jahre lang Gewerkschaftsmitglied in Wentworth und auf einer Gewerkschaftsdemo vor dem State House in Massachusetts haben die alle wie Obama geredet, von der Zerstörung der amerikanischen Mittelklasse, und, dass man diese schützen muss. Ich habe aus voller Kehle geschrien: Was ist mit der Arbeiterklasse? Alle haben sich umgedreht und mich angesehen, als ob sie mich fragen würden, wovon redest du da? Sie waren freundlich, aber die Feuerwehrmänner, die dort waren, sehen sich selbst anscheinend nicht als Leute der Arbeiter*innenklasse. Sie reden davon ihren Mittelklasse-Status zu schützen. Da ist ist langer Weg zu gehen, um dieses Bewusstsein zu schaffen.

An diese Stelle drängen sich für mich einige Fragen auf. Erstens, ist es nicht überraschend, dass diese Synchronizität heute noch nicht besteht, wo es doch viel einfacher wäre als vor dreißig oder vierzig Jahren. Nicht nur wegen der neuen Kommunikationstechnologien, sondern auch weil es heute viel einfacher ist zu reisen und ein direkter Austausch leichter möglich wäre. Zweitens, hast du gesagt, dass der Slogan von den 99% und den 1% ein enormer Fortschritt im Klassenbewusstsein wäre. Da würde ich dir zum einen zustimmen, aber ist das nicht auch gefährlich, weil es nur die Verteilung thematisiert und nicht dieses ganze System, das diese ungleiche Verteilung erst produziert? Und am Ende hast du selbst gemeint, dass sich viele eben nicht mehr als Arbeiter*innenklasse verstehen. Haben wir da nicht einen Rückschritt erlebt in den letzten Jahrzehnten?

George Katsiaficas: So wie Eros und Thanatos stets miteinander in Konflikt stehen und sich miteinander vermischen,

finden wir immer auch reaktionäre Tendenzen, sogar innerhalb der Bewegungen. Marcuse hat das den „psychischen Thermidor“ genannt. In Europa, wie in den Vereinigten Staaten, nimmt die Gegenreaktion die Form des Rassismus an und das äußert sich in Aktionen gegen Migrant*innen, was in einem krassen Widerspruch zur internationalen Solidarität der Arbeiter*innenklasse steht. Geschichte bewegt sich nicht in klaren Linien vorwärts und es gibt keine eisernen Gesetze der Geschichte. Wichtig für uns ist es, zu verstehen, dass wir Veränderungen nur Schritt für Schritt erreichen können, dass wir in jeder Epoche Ergebnisse haben werden, die unvorhergesehen und unerwünscht sind, aber zugleich etwas schaffen können, das uns in die erwünschte Richtung bringt, also in jene von Gerechtigkeit, Frieden und internationaler Solidarität.

In deinem Buch über 1968 hast du eine Aufstellung gemacht, die auch beinhaltet, dass in den Momenten welthistorischer Bewegungen eine neue revolutionäre Klasse auf den Plan getreten ist, die ihr eigene Formen der politischen Artikulation und Organisation gefunden hat. In mancherlei Hinsicht ähneln die Bewegungen von heute denen von 1968, wenn ich zum Beispiel an die Diskussionen darüber denke, dass es heute ein neues Proletariat gibt, das sehr gut ausgebildet ist, aber eben überhaupt keine Perspektive hat.

George Katsiaficas: Diese aufeinanderfolgenden Wellen über die wir geredet haben sind der Bewegung von 1968 sehr ähnlich und das ist der Grund warum 1968 von welthistorischer Bedeutung ist, weil es sozusagen das Epos, das danach kommt, bestimmt. Das Jahr 2011 ist im Gegensatz dazu nicht von welthistorischer Bedeutung. 2011 trägt zu einem Klassenbewusstsein bei, das 1968 noch nicht sehr gut ausgedrückt war. Das Verständnis von der Welt vertieft sich und heute ist es der globale Kapitalismus und nicht nur die Banken, der als das Problem verstanden wird, gegen das viele Menschen kämpfen. Das war 1968 nicht der Fall. Wir waren gegen den Krieg in Vietnam, gegen Rassismus und Polizeibrutalität. Sicher waren viele von uns gegen den Kapitalismus, aber die Bewegungen haben es nie so klar formuliert, wie beispielsweise die Antiglobalisierungsbewegung das schon gemacht hat. Das Bewusstsein gegen Sexismus und Patriarchat hat sich seit den siebziger Jahren weiter entwickelt. Schritt für Schritt. Wir können also sehen, dass diese Bildung des Bewusstseins tiefer geht und das Tempo der Bewegung wächst im Hinblick darauf wie viele Menschen involviert sind, aber die grundlegenden Konturen dieser Bewegungen wurden in der welthistorischen Periode von 1968 gezeichnet und heute sehen wir wieder diese neue Arbeiter*innenklasse.

Ein großer Teil meiner Arbeit über Asien widmet sich der Rekonstruktion dieser Aufstände und wenn wir Klasse nicht bloß als ökonomische Kategorie verstehen, sondern als „Klasse für sich“, dann stellt sich die Frage, welche Gruppen, welche Teile der Gesellschaft und welche Klassenakteure sind als Subjekte revolutionären Wandels in diesen Ländern entstanden. Das waren hauptsächlich – wieder mal – die neuen Sektoren der Arbeiter*innenklasse, also proletarisierte Ärzt*innen, Anwält*innen, Lehrer*innen, usw. Der Juni-Aufstand in Südkorea wurde von Student*innen begonnen und dann war es vor allem Büroangestellte, in Korea nennen sie das die „Necktie-Brigade“, die in großer Zahl in die Bewegung gekommen sind. Aber natürlich haben sich dann die Arbeiter*innen beteiligt. Südkorea hat in den Monaten nach dem Juni-Aufstand seine größte Welle an Streiks erlebt und die waren ungeheuer erfolgreich im Hinblick auf Lohnzugeständnisse, gewerkschaftliche Rechte und bessere Arbeitsbedingungen. Ausgelöst wurden diesen Bewegungen aber nicht von der alten Arbeiterklasse und auch nicht von einer revolutionären Organisation. Es waren die Aktionen dieser neuen Arbeiter*innenklasse. Der Begriff kommt ja nicht von mir, sondern Andre Gorz, Serge Mallet und andere Theoretiker haben das schon so genannt. Ganz ähnlich ist das auf den Philippinen, in Korea, in Nepal oder in Indonesien. Das halte ich für sehr wichtig. Die andere Sache ist folgende: Wenn wir Klasse nicht nur als „Klasse an sich“ und als „Klasse für sich“ betrachten, sondern als philosophisches Konzept aus Marxens Frühen Schriften und mit Hegels Verständnis und dann der Idee der Negation der Negation eine menschliche Form geben, dann müssen wir hinsichtlich der Klasse und dem was das Proletariat war drei Dimensionen verstehen. Erstens, Marx verstand darunter mal einen sehr großen Teil der Gesellschaft, aber keine ökonomische Kategorie, also keine berufliche Kategorie, wird jemals die Mehrheit der Gesellschaft ausmachen. Zweitens, war es die Negation der bürgerlichen Gesellschaft. Ich bin nicht sicher, ob wir noch eine bürgerliche Gesellschaft haben, aber wir können sagen, dass es um die Negation dieser konsumistischen, neokolonialen Gesellschaft und eines sich stetig ausdehnenden Systems von Krieg und Herrschaft geht.

Drittens, verstand er darunter die Menschen, die wirklich nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten. Diese drei Dimensionen des Proletariats sollten wir berücksichtigen. Ich bin nicht glücklich mit den Marxist*innen, die etwas entwickelt haben, das sie Klassenanalyse nennen und dabei so viele Sektoren der Bevölkerung ausschließen, die aber für soziale Veränderungen wichtig gewesen sind. Beispielsweise wird da behauptet, dass Lehrer*innen nicht Teil der Arbeiter*innenklasse sind. Begründet wird das damit, dass sie im Klassenzimmer über Autorität verfügen. Sie geben Anweisungen und nehmen sie nicht entgegen. Das ist meiner Meinung nach ökonomisch falsch, noch viel wichtiger ist aber, dass es politisch falsch ist, denn damit werden wichtige Sektoren der Arbeiter*innenklasse ausgeschlossen. Mit diesen sehr engen ökonomistischen Begriffen schafft man Trennungen und wir reden doch über eine Revolution, die ihr im Titel eures Buches ansprecht, nämlich „Alle Verhältnisse umzuwerfen“, das bedeutet „All Power to the People“ und damit würden sehr verschiedene soziale Beziehungen geschaffen werden und das ist doch das wirklich Entscheidende!

Das könnte man ja als eine Klassenspaltung von links sehen. Wir beklagen immer, dass es den Eliten gelingt uns anhand aller möglichen Kriterien, wie Herkunft, Geschlecht, usw. zu spalten, damit wir unsere gemeinsamen Interessen nicht erkennen, aber mit diesen Definitionen und dem Ausschluss gewisser Teile der Bevölkerung wird dabei in gewisser Hinsicht das selbe gemacht.

George Katsiaficas: Das stimmt. Es kommt noch dazu, dass Lehrer*innen hier in den USA beileibe nicht wohlhabend sind. Viele von denen hätten gerne die Jobs der alten Arbeiterklasse, weil man da mehr verdient. Wenn wir das also als die 99% und die 1% denken, dann sind wir auf einem guten Weg. Manche Theoretiker bevorzugen den Begriff Multitude und das halte ich für eine gute Idee, auf alle Fälle besser als recht beliebig das revolutionäre Subjekt zu definieren. Das als Multitude zu denken ist ein großer Schritt vorwärts, um zu verstehen, was passiert.

Du scheinst da sehr optimistisch zu sein, aber gibt die aktuelle Situation nicht auch Anlass zu Pessimismus?

George Katsiaficas: Es gibt viele Dinge in der Welt, die mich deprimieren und pessimistisch stimmen. Zum Beispiel die Kriegsmaschine der USA, denn ich habe wirklich gedacht, dass wir nach dem Vietnamkrieg etwas erreicht haben und sie nicht mehr in der Lage sein werden so schreckliche genozidale Kriege zu führen. So wie die Black Panthers gedacht haben ein für allemal mit Sklaverei und Rassismus Schluss machen zu können. Aber diese Dinge sind wieder aufgetaucht und sie werden so lange wieder kommen, so lange es den globalen Kapitalismus gibt. Das ist für mich der Imperativ schlechthin und der Grund warum wir eine Revolution gegen den Kapitalismus brauchen. Dazu muss man nicht „Das Kapital“ gelesen haben, um das zu verstehen, denn das Elend ist so offensichtlich. Man muss dazu kein Radikaler sein, es reicht klar denken zu können und man wird schnell zum Schluss kommen, dass der Kapitalismus den Planeten zerstört. Am Ende des Zweiten Bandes von „Asia`s Unknown Uprisings“ beschreibe ich die vier strukturellen Imperative des bestehenden Systems: „Wars and Weapons“ (Kriege und Waffen), „Billionaires and Beggars“ (Milliardäre und Bettler), „Profits and Pollution“ (Profite und Verschmutzung) und „Bubbles and Busts“ (Spekulationsblasen und Pleiten). Vielleicht ist es vielen nicht so klar im Hinblick auf den letzten Imperativ, aber für die anderen drei machen sie den globalen Kapitalismus verantwortlich.

Ich würde abschließend noch mal zum Eros-Effekt zurückkommen. Du hast vorhin davon gesprochen, dass wir alles ändern müssen und es nicht um kleine Korrekturen gehen kann. Viele der Bewegungen waren dazu in der Lage Regierungen stürzen, aber weitergehende gesellschaftliche Änderungen wurden nicht erreicht. Das war in der Folge von 1968 eine wichtige Diskussion, weil es gelungen ist diesen Aufbruch wieder zu integrieren, was als Counter- Revolution oder passive Revolution bezeichnet wurde. Ein wirklicher Bruch ist also nicht gelungen.

George Katsiaficas: Wir sollten uns an eine Sache erinnern: Die Amerikanische Revolution von 1776 hat den Genozid an den Native Americans nur noch intensiviert und zu Imperialismus geführt, die Französische Revolution hat den Kolonialismus in Afrika und Asien befördert und die Russische Revolution hat den Gulag und den Krieg in Afghanistan mit sich gebracht. Jede dieser Revolutionen hatte natürlich eine Menge an progressiven Momenten. Man muss sich beispielsweise fragen, ob die Arbeiter*innenklasse in den europäischen Ländern so viele Verbesserungen erreicht hätte, wenn das russische Beispiel in Europa und den USA nicht einen derartigen Druck erzeugt hätte die Arbeiter*innenklasse zu inkludieren. Der Neoliberalismus war nicht zuletzt deswegen in der Lage so viele dieser Errungenschaften rückgängig zu machen, weil es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Außerdem würde ich würde bezweifeln, ob die Dekolonialisierung in Afrika ohne sowjetische und kubanische Hilfe so schnell vonstatten gegangen wäre. Genau so gab es in der Amerikanischen und der Französischen Revolution fortschrittliche Aspekte. Diese ganz unterschiedlichen Konsequenzen sind Teil der Dynamik historischer Entwicklungen. Mir scheint, dass die Welle von Aufständen nach 1968 ein globales Bewusstsein geschaffen hat, das antikapitalistisch ist und eine globale Verfasstheit der 99% geschaffen hat, die sich miteinander identifizieren. Das wird aber durch diese schrecklichen neokolonialen Kriege verschüttet.

Doch bin ich sicher, dass das wieder kommt, und zwar mit einem viel tieferen Verständnis und in einem viel weiteren Kontext. Die Wellen globaler Aufstände werden in Zukunft jedes Mal umfassender sein und sie werden sich nicht mehr begrenzen lassen. Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren auf einer Konferenz etwas ganz ähnliches gesagt habe. Das war noch vor Occupy Wall Street. Jemand aus dem Publikum wollte wissen, ob ich das wirklich glaube, was ich da sage. Auch wenn die Dinge heute so schrecklich sind, glaube ich das wirklich. Ich bin sicher, dass wir Aufstände sehen werden, die viel umfassender und noch viel stärker gegen das kapitalistische System selbst gerichtet sein werden. Die Frage ist dann, ob wir den Kapitalismus beenden werden. Nicht heute! Nicht morgen. Das ist ein langer Prozess. Das Ende des Feudalismus hat dreihundert oder vierhundert Jahre gedauert. Es kann schneller gehen, aber auch länger dauern, denn die Menschen müssen von diesem Prozess überzeugt sein. Vor 170 Jahren war die Hälfte der USA von der Sklaverei überzeugt, und natürlich ist das bis heute nicht ganz überwunden, aber die große Mehrheit der Amerikaner*innen würde wohl darüber lachen, wenn jemand vorschlagen würde die Sklaverei wieder einzuführen. Im Hinblick auf den globalen Kapitalismus müssen wir diese Veränderungen im Kopf haben, damit der Kapitalismus dann zu etwas wird, wo die Menschen verwundert fragen, wie das mal möglich war. Jede neue Protestwelle erzeugt im Hinblick auf dieses Bewusstsein Sprünge nach vorne und Menschen entwickeln neue Hoffnungen und neue Träume. Jedes Mal, wenn das passiert, bekommen wir vielleicht nicht den Effekt, den wir gerne gehabt hätten, aber jedes Mal bleibt ein Rest, der mehr und mehr sichtbar wird. Ich wünschte, ich könnte sagen, wie man aus dem ganzen Wahnsinn der kapitalistischen Produktionsweise rauskommt, aber es gibt da nun mal kein Wundermittel.


Ausgewählte Literatur von George Katsiaficas:

The Imagination of the New Left: A Global Analysis of 1968 (1987).

The Subversion of Politics: European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life (1997). Asia ́s Unknown Uprisings (Vol. 1): South Korean Social Movements in the 20th Century (2012).
Asia ́s Unknown Uprisings (Vol. 2): People Power in the Philippines, Burma, China, Taiwan, Bangladesh, Nepal, Thailand and Indonesia 1947-2009 (2013).

George Katsiaficas

Author and activist, George Katsiaficas has written on anti-capitalist and revolutionary social movements globally.

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